Hintergrund

Im Jahr 2002 hatte die Staatengemeinschaft auf dem Nachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg versprochen, die Risiken von gefährlichen Chemikalien bis 2020 weltweit auf ein Mindestmaß zu senken. Um das zu erreichen, wurde 2006 unter dem Dach der Vereinten Nationen der Strategische Ansatz zum Internationalen Chemikalienmanagement (Strategic Approach to International Chemicals Management, kurz SAICM) ins Leben gerufen. Doch das Ziel, bis 2020 einen nachhaltigen Umgang mit synthetischen Stoffen von der Produktion über die Verwendung bis zur Entsorgung zu erreichen, wurde verfehlt. Laut Vereinten Nationen dürfte sich die Chemikalienproduktion bis 2030 (im Vergleich zum Jahr 2017) verdoppeln, ohne dass ihr Management nachhaltig ausgestaltet wäre. Im Jahr 2020 sollte SAICM erneuert und verbessert werden. Dazu liefen seit 2015 die Verhandlungen zwischen den Regierungen, der Wirtschaft und den Nichtregierungsorganisationen, die gleichberechtigt am Prozess beteiligt sind. Doch durch die Corona-Pandemie geriet der Prozess ins Stocken. Erst als Präsenztreffen wieder möglich waren, konnten die Vorbereitungen für ein Folgeabkommen fortgeführt werden. Im September 2023 war es so weit, unter deutscher Präsidentschaft wurde in Bonn auf der Weltchemikalienkonferenz eine neue Rahmenvereinbarung zum Schutz vor Chemikalien beschlossen: Global Framework on Chemicals – For a Planet free of Harm from Chemicals and Waste (Globale Rahmenvereinbarung über Chemikalien – Für einen Planeten ohne Schäden durch Chemikalien und Abfälle).

Chemikalien spielen eine bedeutende Rolle in praktisch allen Bereichen unseres Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens. Wir atmen sie ein, tragen sie am Körper, nehmen sie mit der Nahrung auf, setzen sie in Wasser und Böden frei, verwenden sie in Produktion und Landwirtschaft und fügen sie als Inhalts- und Zusatzstoffe unzähligen Materialien bei. Ihre Omnipräsenz macht einen nachhaltigen und sicheren Umgang mit ihnen unerlässlich.

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Nützlich aber vielfach gefährlich

Chemikalien werden weltweit in großen Mengen freigesetzt. Das gilt auch für gefährliche Chemikalien - seien es Schwermetalle, Kunststoffbestandteile und Zusatzstoffe wie Bisphenol A (BPA), Weichmacher oder Flammschutzmittel, Pestizide, Biozide oder Arzneimittel. Die Folgen sind zum Teil dramatisch. Zwei Beispiele:

Das Umweltbundesamt hat festgestellt, dass alle (!) Oberflächengewässer in Deutschland in einem „schlechten chemischen Zustand“ sind, was primär auf die Quecksilberbelastung zurückzuführen ist, die sich noch immer auch aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe speist.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt weltweit jährlich über 2 Millionen Todesfälle und einen Verlust von 53 Million gesunden Lebensjahren im Jahr 2019 auf die Belastung mit Chemikalien zurück.

Neben den Schäden und negativen Auswirkungen auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit, gehen mit der zunehmenden Chemikalienbelastung auch enorme gesellschaftliche Kosten einher:

Die Weltbank bilanziert, dass allein die Gesundheitsfolgen durch die Exposition gegenüber Blei global bei über 10 Billionen Dollar liegen. Die gesamtgesellschaftlichen Gesundheitskosten für die Auswirkungen der Stoffgruppe der Per- Und Polyfluorierten Alkylsubstanzen wird allein in der EU auf 51-84 Mrd. Euro beziffert. Die Kosten der Stoffgruppe der Endokrinen Disruptoren liegt bei über 157 Mrd. Euro. Die Umweltkosten dürfen in allen Fällen nochmals deutlich höher liegen.

Im Jahr 2021 definierten Wissenschaftler*innen erstmals eine Planetare Grenze für neue Stoffe („Novel Entities“) und proklamierten zeitgleich, dass diese bereits weit überschritten ist. Mehr als 350.000 Substanzen seien im Umlauf. Viele persistent, mobil und/oder gefährlich. Die Verschmutzung der Erde mit Chemikalien, Plastik und Abfällen ist zur dritten großen Umweltkrise unserer Zeit geworden – neben dem Klimawandel und der Biodiversitätsverlust. Und die Krisen bedingen und verstärken sich. Bspw. ist die chemische Industrie weltweit für ca. 8% der Treibhausgasemissionen verantwortlich – allein im Produktionsbereich. Weitere Treibhausgase werden während der Nutzung der chemischen Produkte emittiert. Und neben der direkten letalen Wirkung von Chemikalien auf Lebewesen und dem Zerstören von Ökosystemen lösen Chemikalien auch bei Tieren Krankheiten und Stoffwechselprobleme aus.   

Multiple Belastung

Es geht um mehr als um einzelne Chemikalien. Sogenannte Chemikaliencocktails, bei denen das Zusammenwirken der verschiedenen Stoffe gänzlich unbekannt oder nicht ausreichend erforscht ist, bergen Gefahren für Menschen und Ökosysteme. Selbst Alltagsprodukte wie Spielzeug können aus mehreren Chemikalien bestehen und negativ wirken. Kunststoffe dominieren den Produktmarkt. Fische verhungern an größeren Plastikteilen in ihren Mägen – und Mikroplastik hat sich längst zu einem weltweiten Problem entwickelt. Es wurde mittlerweile praktisch überall nachgewiesen: In Ozeanen, Flüssen, dem arktischen Eis, in Salz, Honig, Bier, Trinkwasser, Fischen und im Menschen. Pestizide und viele Biozide, die per se giftige Eigenschaften besitzen, werden in die Umwelt freigesetzt, belasten Böden, Gewässer, und Lebensmittel, gefährden die Gesundheit von Millionen von Menschen und tragen erheblich zum Schwund der Artenvielfalt in Agrarlandschaften und darüber hinaus bei.

Die gigantische und weiter wachsende Produktion und Nutzung von Chemikalien und Plastik hat mittlerweile für eine weltweite Hintergrundbelastung mit Chemikalien gesorgt. Durch Handel, Nahrungsketten und natürliche Stoffströme gelangen Chemikalien an jeden Ort der Welt. Oftmals sind spezifische Wirkungen gänzlich unbekannt.

Die Chemikalienbelastung hat auch eine soziale Komponente. Kinder aus Familien „mit niedrigem Sozialstatus“ sind laut Bundesregierung häufiger Produkten mit fragwürdigem Nutzen – zum Beispiel Weichspüler – und den darin enthaltenen Chemikalien ausgesetzt als solche mit hohem Sozialstatus. Kinder und Familien von Landarbeiter*innen im globalen Süden sind hochgefährlichen Pestiziden (HHPs) in besonderer Weise ausgesetzt, da Schutzbekleidung fehlt oder unerschwinglich ist, Schulen und Behausungen umgeben von Plantagen liegen, die vielfach aus der Luft gespritzt werden und es bei der Lagerung und der Entsorgung der Pestizide oft zu Kontaminationen kommt. Arbeit, Alter, Gender und damit verbundene Rollenzuschreibungen und Wohnort, dies alles sind Einflussfaktoren darauf, wie sehr ich gegenüber Chemikalien exponiert bin oder mich davor schützen kann.

Globale Regeln für Chemikalien

Weil die Folgen der Verwendung bestimmter Chemikalien offensichtlich schädlich für Mensch und Umwelt sind, hat sich die (internationale) Politik des Themas schon länger angenommen. Es gibt eine ganze Reihe verbindlicher internationaler Konventionen zu verschiedenen Aspekten des Chemikalienmanagements oder einzelner Stoffklassen.

1989 wurde im Baseler Übereinkommen die Kontrolle des Im- und Exports gefährlicher Abfälle und ihre Entsorgung geregelt. Seit Mai 2019 gehören auch Plastikabfälle zu den durch die Konvention abgedeckten Stoffen.

1998 regelte die Rotterdam-Konvention den Handel mit bestimmten gefährlichen Chemikalien, Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmitteln und etablierte „Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung“, also die Übermittlung von Informationen über Risiken und den sachgemäßen Umgang mit Chemikalien, bevor diese über Grenzen hinweg verbracht werden. Derzeit sind 55 Chemikalien in der Rotterdam-Konvention gelistet.

2001 wurden in Stockholm zwölf langlebige organische Schadstoffe, sogenannte “POPs” (persistent organic pollutants), weltweit verboten beziehungsweise deren Freisetzung reglementiert. Diese auch als das dreckige Dutzend bekannten Schadstoffe sind organische Chlorverbindungen. Dazu zählen Pestizide wie DDT und Lindan, polychlorierte Biphenyle (PCBs) sowie Dioxine und Furane. Die meisten der hier reglementierten Stoffe wie Pestizidwirkstoffe oder Plastikadditive. Diese Stoffe können krebserregend sein, das Erbgut schädigen oder Missbildungen verursachen. Inzwischen hat die Weltgemeinschaft mehr als 30 langlebige organische Schadstoffe und Schadstoffgruppen in dem Stockholmer POPs-Übereinkommen gelistet. Und weitere Stoffe sind zur Aufnahme vorgeschlagen.

Die Minamata-Konvention von 2013 enthält konkrete Vorschriften zu Quecksilber und quecksilberhaltigen Produkten, die ab 2020 verboten oder nur noch mit Einschränkungen gehandelt werden sollen, beispielsweise Fieberthermometer, Batterien, aber auch Seifen und Kosmetika.

Diese vier internationalen Abkommen sind wichtige Errungenschaften, doch sie decken nur einen Bruchteil der für Mensch und Umwelt problematischen Chemikalien ab. Bei den Pestiziden sind beispielsweise bislang nur 44 von mehr als 1000 Wirkstoffen über die genannten Konventionen international verbindlich strenger reguliert bzw. verboten. Laut Aussage der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Grünen im Frühjahr 2021 zum internationalen Chemikalienmanagement reglementieren die bestehenden Konventionen insgesamt lediglich 64 Stoffe, sowie Quecksilber und Quecksilberverbindungen. Vor allem in Ländern des globalen Südens gibt es noch immer eine ganze Reihe von Lücken im Chemikalien- und Umweltrecht. Diesen Staaten fehlen auch meist die Mittel, vorhandene Gesetze effektiv umzusetzen. Die dort genutzten Chemikalien oder dahin verbrachten Abfälle kommen aus dem globalen Norden und die chemische Industrie profitiert von den geringen politischen Standards. Die Kosten der negativen Folgen von Chemikalien und Abfällen werden im globalen Süden deutlicher als anderswo auf Mensch und Umwelt ausgelagert.

Und selbst in der EU und in Deutschland sind das Chemikalienrecht und deren Umsetzung lückenhaft und das, obwohl Europa eine der strengsten Chemikalienverordnungen der Welt hat: die REACH-Verordnung. 2007 in Kraft getreten, wurden hier Hersteller und Inverkehrbringer dazu verpflichtet ausreichend Daten vorzulegen, bevor ein Produkt auf den Markt kommen durfte. Das „no data, no market“ Prinzip funktioniert jedoch nur bedingt und so fehlen viele Daten oder werden nicht unabhängig geprüft. Hinzu kommen verschiedene andere Schwierigkeiten, wie die lange Bearbeitungszeit.  

REACH

REACH steht für Registration, Evaluation,
Authorisation and Restriction of Chemicals
(Registrierung, Bewertung, Zulassung und
Beschränkung von Chemikalien)

SAICM – Ansatz für nachhaltiges Chemikalienmanagement

Um dem auch im Rahmen des internationalen Chemikalienmanagements Rechnung tragen zu können, beschlossen die Staats- und Regierungschefs beim Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002, einen Mechanismus für den vernünftigen Umgang mit Chemikalien zu schaffen. Dieser wurde 2006 in Dubai in Form von SAICM ins Leben gerufen. SAICM war eine freiwillige Rahmenvereinbarung, deren Beschlüsse völkerrechtlich nicht bindend sind. Ziel war es, bis 2020 zu einem nachhaltigen Umgang mit Chemikalien über ihren gesamten Lebenszyklus zu kommen. Ein Ziel, das nach Meinung der Vereinten Nationen trotz Bemühungen unter SAICM bisher nicht erreicht worden ist. Zwei wichtige Gründe hierfür waren das Fehlen verbindlicher Vorgaben und ausreichender Finanzierung.

SAICM hat trotzdem wichtige Funktionen erfüllt. Zum einen wurden über das Abkommen Ressourcen zum Kapazitätsaufbau in Ländern des globalen Südens bereitgestellt. Auch hat der Prozess gerade nicht staatlichen Akteur*innen den Zugang zu wichtigen Prozessen eröffnet.

Am wichtigsten ist aber, dass SAICM anders als die Konventionen nicht ein auf bestimmte Stoffe oder Prozesse beschränktes Mandat hat, sondern einen politischen Raum dafür bietet, auch über neue, beziehungsweise als neu erkannte Probleme zu beraten.

Nicht allein durch SAICM, aber sicher dadurch befeuert, wuchs in den letzten Jahren auch das politische Bewusstsein dafür, dass die Verschmutzung der Erde mit Chemikalien und Plastik die dritte große Umweltkrise unserer Zeit darstellt.

Auf der United Nations Environmentally Assembly 4.2 (UNEA 4.2) im März 2022 wurde die Verschmutzung der Erde mit Müll und Chemikalien als dritte große Umweltkrise benannt und damit der dringende Handlungsbedarf betont. Zusätzlich zu dem neuen Narrativ und der damit verbundenen Dringlichkeit, wurde auf der UNEA 4.2 der Weg für ein Science-Policy-Interface (SPI) für Chemikalien geebnet. Ein SPI für Chemikalien ist vergleichbar mit dem Intergovernmental Panel on Climate Chance (IPCC) und soll das Chemikalienmanagement stärken. Derzeit finden internationale Verhandlungen zur Ausgestaltung des SPI statt.

Ebenfalls auf der UNEA wurde der Weg für ein rechtlich bindendes, weltweites Plastikabkommen geebnet, das bis 2025 in Kraft treten soll. Vor allem der Zivilgesellschaft und Betroffenen Communities ist es zu verdanken, dass das Abkommen den ganzen Lebenszyklus von Plastik und nicht nur Abfälle (in Meeren), sowie die diversen gefährlichen Chemikalien in Plastik einbezieht.

Exit Plastik

Exit Plastik ist ein Bündnis aus 10 zivilgesellschaftlichen
Organisationen, um die Plastikflut zu stoppen. Teile des Bündnisses bringen sich
auch in die Verhandlungen für eine globales Plastikabkommen ein.

Auch die G7-Staaten sprechen bei der Verschmutzung der Erde, durch Chemikalien und Plastikmüll von der dritten großen Umweltkrise unserer Zeit. Auf der Konferenz der Klimaschutz-, Energie- und Umweltminister*innen im Mai 2022 haben sich die Vertreter*innen der G7-Staaten auf die Stärkung des globalen Chemikalienmanagements geeinigt

Eine Zukunft für das globale Chemikalienmanagement nach 2020?

Weil SAICM nicht zum gewünschten Ergebnis bis 2020 geführt hat, wurden seit der vierten internationalen Konferenz zum Chemikalienmanagement (ICCM4) im Jahr 2015 die Vorbereitungen für eine Erneuerung des Mandats und eine Verbesserung der Mechanismen getroffen. Ein neues SAICM – auch unter dem Titel SAICM-Beyond-2020 gehandelt – sollte auf ICCM5 in Bonn im Jahr 2020 verhandelt und beschlossen werden. Im Rahmen eines Intersessional Process wurden Empfehlungen für ein SAICM-Beyond-2020 Abkommen im Vorfeld ausgearbeitet. Durch die Corona-Pandemie konnte der eigentliche Zeitplan nicht eingehalten werden und die ICCM5, sowie die weiteren Vorbereitungen für ein neues Abkommen wurden mehrfach verschoben. Im September 2023 wurde dann in Bonn eine neue Rahmenvereinbarung – nach zähen Verhandlungen – beschlossen: Global Framework on Chemicals – For a Planet Free of Harm from Chemicals and Waste