Stellt die kommende Bundesregierung Industrieinteressen vor den Schutz von Mensch und Umwelt vor Chemikalien?

Die CDU, CSU und SPD haben ihren ausgehandelten Koalitionsvertrag vorgestellt. Dieser muss nun noch formal bestätigt werden, dann können die Parteien die Regierungsarbeit aufnehmen. Auf den knapp 150 Seiten finden sich einige wenige Aussagen zur Chemikalienpolitik, die wenig überraschend sind, jedoch auch wenig Fortschritt im effektiven Schutz von Mensch und Umwelt vor den negativen Auswirkungen von Chemikalien erwarten lassen. Wie zu erwarten, liegt der Koalitionsvertrag im Bereich Chemikalienpolitik deutlich hinter dem Koalitionsvertrag der vorherigen Ampelregierung. Wichtige angestoßene Projekte wie der Fünf-Punkte-Plan der Bundesregierung zum Schutz vor hormonell schädigenden Stoffen oder auch das Exportverbot von hier verbotenen Pestiziden werden nicht aufgegriffen. Auch spart der Koalitionsvertrag einen Blick auf die internationale Ebene und das wichtige Engagement dort aus. Die Prämisse, dass die deutsche Industrie Vorrang hat, zieht sich auch durch die Chemikalienpolitik.

Die zukünftige Regierung kündigt eine Chemieagenda 2045 an. Hierbei sollen Bund, Länder, Gewerkschaften und Unternehmen zusammenarbeiten, um Deutschland zu weltweit innovativsten Chemie- und Pharmastandort zu machen. Dies ist im Grunde eine Fortführung des Chemiegipfels, den Scholz bereits angestoßen hatte. Im Frühjahr 2023 fand ein Treffen zwischen Unternehmensspitzen, Industrie-Verbänden und Gewerkschaften statt. Dem folgte ein Chemie-Spitzengespräch im Bundeskanzleramt im September 2023 – während parallel die Weltchemikalienkonferenz in Bonn tagte. Neben Absprachen zu Zielen, wie günstiger Energieversorgung oder einem „ausgewogenen europäischen Regulierungsrahmen“ sollte ein Chemie-Pakt folgen. Dieser kam jedoch nie. Schon damals war problematisch, dass hier hinter verschlossener Tür gesprochen wurde und Umwelt- und Gesundheitsschutz nicht mitgedacht wurde. Vielmehr bekam die chemische Industrie einen exklusiven Rahmen, um ihre Forderungen zu stellen. Dies soll nun wieder aufgegriffen und fortgeführt werden. Die Nähe von Merz zum VCI oder auch BASF kommt dort der Industrie sicher zugute.

Neben einer übergeordneten Chemie-Agenda greifen die Parteien im Koalitionsvertrag auch die beiden drängendsten und präsentesten Themen auf: die Beschränkung der PFAS-Chemikalien und die Überarbeitung der REACH-Verordnung. Dabei ist eine eindeutige Positionierung zu beidem aus den Formulierungen nicht herauszulesen. Damit bleibt offen und auch ein Stück ungewiss, wie die kommende Bundesregierung sich bei den drängenden politischen Prozessen auf europäischer Ebene verhalten wird.

Im Koalitionsvertrag halten die Parteien fest, dass ein Pauschalverbot von ganzen Stoffgruppen wie den per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen ablehnt und sich für einen risikobasierten Ansatz in der Chemikalienpolitik einsetzt. Beides sind breite und offene Formulierungen, unter denen auch die aktuellen politischen Prozesse zur Beschränkung der PFAS-Chemikalien, sowie die Überarbeitung der REACH-Verordnung gefasst werden können, und zwar Ergebnis offen. Problematisch dabei ist jedoch, dass die gewählten Formulierungen suggerieren, es drohe ein Totalverbot von Chemikalien oder der risikobasierte Ansatz auf EU-Ebene würde ausgehebelt. Dies ist jedoch nicht der Fall.

Der bei der Europäischen Chemikalienagentur von fünf europäischen Staaten, u.a. Deutschland, eingereichte Vorschlag zur Beschränkung der PFAS-Chemikalien befindet sich aktuell in der wissenschaftlichen Prüfung. Der Vorschlag enthält zwei Szenarien, wobei Szenario 1 einem Totalverbot gleichkommt, jedoch sowohl von den einreichenden Behörden als unrealistisch eingeschätzt wird, als auch nicht weiter betrachtet wird. Wahrscheinlicher und gerade erörtert wird Szenario 2, wo Ausnahmeregelungen und lange Übergangsfristen enthalten sind. Dieser Beschränkungsvorschlag ist ein differenzierter und wissenschaftlicher Vorschlag, um sich einem der drängendsten Probleme anzunehmen. 

REACH ist die europäische Chemikalienverordnung und ist seit 2007 in Kraft. Es gilt das Grundprinzip, dass die Hersteller und Inverkehrbringer von Chemikalien Daten erbringen müssen und die Risiken selbst bewerten. REACH basiert auf dem risikobasierten Ansatz, bei dem die Gefährlichkeit eines Stoffes und seine Exposition zusammengenommen werden, um ein Risiko abschätzen zu können, inwiefern negative Auswirkungen auf Mensch und Umwelt erwartbar sind. Die Formulierung im Koalitionsvertrag suggeriert auch hier wieder, dass dies nicht gegeben sei. Eine von der EU-Kommission angekündigte Überarbeitung der REACH Verordnung soll dieses Prinzip nicht auflösen. Vielmehr strebt die Kommission aktuell eine Vereinfachung von REACH an. Ein erster Vorschlag dazu wird im vierten Quartal dieses Jahres erwartet. Diese Vereinfachung lässt unter aktuellen Deregulierungsdebatten leider vielmehr eine Verwässerung der Verordnung befürchten.

Im Bereich der Pestizide will die künftige Regierung die Zulassungssituation vereinfachen und das Risiko durch die Steigerung des Einsatzes von technischen Mitteln verringern. Eine Reduzierung der Nutzung steht nicht zur Debatte. Dabei sind Pestizide die Chemikalien, die in großen Mengen intendiert in die Umwelt entlassen werden. Der hohe Pestizideinsatz ist nicht nur Treiber des Artenrückgangs, sondern belastet auch Gewässer stark.

Was der Koalitionsvertrag vollständig vermissen lässt, ist die Rolle des internationalen Chemikalienmanagements. Dabei spielt Deutschland hier eine wichtige Rolle. Nicht nur, weil 2023 in Bonn das neue globale Rahmenwerk über Chemikalien (GFC) verabschiedet wurde, sondern auch weil Deutschland aktuell einer der wichtigsten Geldgeber im GFC Fund ist. Die CDU, CSU und SPD bekennen sich im Koalitionsvertrag zur deutschen Nachhaltigkeitsstrategie und wollen diese inhaltlich und strategisch weiterentwickeln. Wie bleibt offen. In der Nachhaltigkeitsstrategie wird umfänglich auf die internationale Ebene und die Notwendigkeit von internationalen Maßnahmen zum Schutz vor negativen Auswirkungen von Chemikalien eingegangen. Bleibt zu hoffen, dass dies nicht unter die Räder bei der geplanten Weiterentwicklung gerät und die vielen positiven Impulse in der Nachhaltigkeitsstrategie von der künftigen Bundesregierung wirklich verfolgt werden.

 

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Kinder künftig besser geschützt vor Chemikalien